Glaube, Psychologie, Leben

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Das Dach offen lassen

Von Größe und Begrenztheit des Menschen

Selten wollen wir ein Dach lieber offen als geschlossen lassen. Beim Hausbau sind wir froh, wenn es endlich dicht ist (und bleibt), bei einem Auto kann es vielleicht bei warmem Sommerwetter attraktiv sein…

Doch vor einigen Jahren hatte ich eine ganz besondere Erfahrung mit einem offenen Dach und weiß, dass ich in gewisser Hinsicht gerne „das Dach offen lassen“ möchte.

Eine Ruine in Lissabon

Damals saß ich in Lissabon in einer alten Kirchenruine, die Wände standen noch da, mit gotischen Fensteröffnungen, auch ein paar Säulenreste und vorne ein Altar und das Kreuz. Ich mag gotische Kirchen, die nach oben weisende Architektur, die klare Linienführung, die mich auf die Größe Gottes verweist und daran teilhaben lässt.

Wenn mein Blick nun in dieser Kirche nach oben ging, dann blieb er zuerst an kleinen Pflanzen in den Mauerritzen hängen und an Überresten der Ornamente – und dann kam strahlend blauer Himmel. Spontan betete ich: „Danke Herr, was für ein Blick über die Natur und die begrenzte Schönheit deines von Menschen gebauten Hauses hinaus in die Herrlichkeiten und Größe deines unendlichen Hauses!“

Ich war bewegt von dem, was ich als Zusammentreffen menschlicher Leistung in ihrer Schönheit und Endlichkeit mit Gottes Ewigkeit erlebte.

Das Erdbeben von Lissabon

Als ich mich näher mit der Geschichte dieser Kirche befasste, stellte ich fest, dass der Auslöser ihrer Zerstörung, das große Erdbeben von Lissabon am 01. November 1755, bei den Menschen in Europa ebenfalls viel bewegt hat. Natürlich bei den direkt Betroffenen, die nicht ruhig in einer vom Schutt befreiten Ruine saßen wie ich, sondern mitten im Chaos einer abgebrannten Stadt mit zehntausenden Todesopfern. Da ging es ums nackte Überleben.

Darüber hinaus kam es – neben Hilfsaktionen – weit über Lissabon hinaus zu einer heftigen Erschütterung, wie diese Katastrophe zu bewerten sei, was sie über den Menschen und über Gott, bzw. über ein zutreffendes Menschen-, Welt- und Gottesbild zu sagen habe.

Die Suche nach Antworten

Der in der Stadt einflussreiche Jesuit Malagrida predigte den Bewohnern (und setzte es, soweit seine Macht reichte, auch um):

  • Das Erdbeben war eine Strafe Gottes.
  • Denn ihr seid sündige Menschen. Lissabon ist eine Stadt voller Sünde.
  • Deshalb: Tut Buße. Unbußfertige Sünder müssen bestraft oder hingerichtet werden, sonst trifft Gottes Zorn uns bald wieder.

Andere Christen gaben ihm so nicht Recht, sie predigten (und handelten entsprechend):

  • Ja, Gott ist der Herr. Doch er straft nicht mit Erdbeben. Erdbeben kommen in der Welt, die Gott geschaffen hat, aufgrund natürlicher Vorgänge vor.
  • Deshalb: Liebt Gott und helft eurem Nächsten! Lindert die Not der Betroffenen! Und erforscht die Vorgänge in der Natur, um zukünftigen Katastrophen vorzubeugen.

Eine politische Antwort gab der Marquês de Pombal: Als Premierminister setzte er sich für einen raschen, strukturierten Wiederaufbau der Stadt ein und sah darin eine Chance, den aufgeklärten Absolutismus gegen die Herrschaft und den Einfluss des Feudaladels und der Jesuiten durchzusetzen. Es sollte allen deutlich werden:

  • Wir müssen uns dieser Katastrophe nicht als einer Strafe Gottes beugen.
  • Wir können das Beben vernünftig und aufgeklärt bewältigen.
  • Wir können, was durch ein Naturereignis zerstört wurde, mit menschlicher Kraft neu aufbauen.

Die philosophische Erschütterung: Europaweit beschäftigte das Erdbeben auch die Philosophen. Zwei Stimmen dazu:

Voltaire (1694 – 1778) sah in dem Ereignis die für ihn schon vorher strittige These von Leibniz (1646-1716) widerlegt, Gott habe die beste aller möglichen Welten geschaffen. Spontan bekräftigte er dieses Fazit in seinem Gedicht über das Erdbeben von Lissabon:

… Betrogene Philosophen. Ihr schreit: „Alles ist gut!“
Kommt her! Und seht die grässlichen Ruinen,
verstreute Glieder unter Marmortrümmern.
– Wie einen Gott sich denken, der, die Güte selbst,
den Kindern, die er liebt, die Gaben spendet,
und doch mit vollen Händen Übel auf sie gießt?

In einem satirischen Roman „Candide oder der Optimismus“ (Erstausgabe 1759) ließ er Candide dann vielfach erleben, dass es einen Gott, auf dessen Güte und Vernunft die Menschen ihren Optimismus aufbauen könnten, nicht gibt.

Rousseau (1712-1778) gab, ebenfalls in einem Roman, eine andere Antwort: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt. Alles entartet unter den Händen des Menschen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Elemente und die Jahreszeiten. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht!“ (aus: „Emil oder über die Erziehung“, Erstausgabe 1762).

Bereits 1756 hatte er Voltaires auf dessen Gedicht geantwortet, dass zumindest das Ausmaß der Katastrophe hätte verhindert werden können, wenn die Menschen mehr auf die Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung geachtet hätten:

„…dass nicht die Natur zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken zusammengebaut hatte! Und dass, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, so würde die Verheerung weit geringer, und vielleicht gar nicht geschehen sein.“

Seit diesem Erdbeben ist viel geschehen: Die Stadt wurde wieder aufgebaut. Naturvorgänge wurden erforscht. Politische Systeme haben sich geändert. Manche Katastrophen haben wir verhindert oder besser bewältigt. Andere haben uns überrollt, natürliche und von Menschen verursachte.

Und immer wieder taucht die Frage auf: Was kann und soll der Mensch? Und wie steht Gott dazu?

Und meine Antwort?

Diese Fragen sind auch zentral für eine christliche Psychologie, in der Begegnung mit dem konkreten Menschen ebenso wie beim Entwickeln möglicher Verstehens- und Handlungskonzepte.

Das Erleben in der Ruine ist mir hier zu einem Bild geworden, das mich erinnert: Der Mensch kann einiges. Gott hat ihn berufen und befähigt, zu bauen und zu bewahren, zu leben und Leben weiterzugeben. Aber der Mensch kann nicht alles. Er ist nicht Gott, sondern Geschöpf.

Deshalb ist es gut, wenn wir bei allem, was wir tun und denken, innerlich „das Dach offen lassen“, das heißt wissen, dass wir etwas können, aber dass unser Vermögen begrenzt ist, begrenzt an Überblick, Kraft, Zeit… Daran müssen wir dennoch nicht zerbrechen, wir müssen nicht versuchen, unseren Mangel zu verbergen oder möglichst schnell und vollständig zu überwinden.

Mein offenes Dach

Durch das offene Dach meiner Begrenztheit kann es wohl manchmal hereinregen, auch schmerzlich, bedrohlich. Doch es wird mir letztlich nicht schaden, denn es ist die Offenheit für den liebenden Schöpfer, der mich teilhaben lässt an seiner Größe, der mich wachsen und dazulernen lässt, der mich beschützen will und der für mich nicht nur alles Irdische, sondern darüber hinaus eine Wohnung in seinem Reich bereitet hat. Und das alles natürlich nicht nur für mich.

Agnes May (Dezember 2022)

 

Zum Weiterlesen:

  • Zur Frage im Angesicht von Katastrophen: „Warum lässt Gott das zu?“, hat Rüdiger Halder in seinem Buch „Gottes Begrenzung von Leid“ eine etwas andere Perspektive entwickelt: „Warum lässt Gott so viel Gutes zu und wie viel des Bösen hält er von uns ab?“ >>> zu bestellen im Shop
  • Vom September 2022 gibt es einen >>> Podcast– bzw. >>> Blogbeitrag von Wolfram Soldan: Das Gericht Gottes – ein Thema für heute? Ein Thema für christliche Psychologie?

 

Zitate nach einem Beitrag im Deutschlandradio vom 02.11.2005: http://www.deutschlandradiokultur.de/tod-des-optimismus.984.de.html?dram:article_id=153292