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Ein heilsames Paradox der Angst

„Fürchtet euch nicht!“, ist eine der Botschaften, die wir uns jedes Jahr an Weihnachten mit den Hirten zusprechen lassen. Bekanntlich finden wir diese Aufforderung in der Bibel oft (jedenfalls mehr als hundert Mal), meist als direkte Botschaft von Gott oder Engeln. Dieses im Alltagsdeutsch „Hab(t) keine Angst!“ kann uns trösten und stärken oder aber unter Druck bringen: „Was, jetzt darf ich noch nicht einmal Angst haben? Wie soll ich das denn anstellen?“
Mindestens ebenso häufig begegnet uns jedoch auch die Aufforderung, zu fürchten, und zwar Gott zu fürchten, als direkte Aufforderung oder als Lob der Gottesfurcht, die gute Früchte bringt.

Lesen Sie im Auszug aus einer Predigt von Wolfram Soldan (der ganze Text ist weiter unten ebenfalls abgedruckt), warum er diese Aufforderungen als ein “heilsames Paradox der Angst” versteht:

Fürchtet euch nicht und fürchtet doch!

Was bedeuten Ihnen diese Aufforderungen angesichts der kleinen und großen Auslöser Ihrer Ängste?

Und wie hilft Ihnen das weiter, was Jesus in einer Passage im Lukasevangelium in typisch jüdisch rabbinischer Zuspitzung seinen Jüngern sagt:
„Ich sage aber euch, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können. Ich will euch aber zeigen, wen ihr fürchten sollt: Fürchtet den, der, nachdem er getötet hat, Macht hat, in die Hölle zu werfen. Ja, ich sage euch, den sollt ihr fürchten. Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Groschen? Dennoch ist vor Gott nicht einer von ihnen vergessen. Auch sind die Haare auf eurem Haupt alle gezählt. Fürchtet euch nicht! Ihr seid kostbarer als viele Sperlinge.“ (Lk 12,4-7 Luther 2017)

Wen oder was sollen wir fürchten?

Im Gegensatz zu uns heute, war für die Zuhörer völlig klar, dass „der, der nachdem er getötet hat, in die Hölle werfen kann“ nur Gott selbst sein kann. Für den ganzheitlich denkenden Hebräer kann, weil Gott der Herr über Leben und Tod ist, der Tod eines Menschen auch gesehen werden als „Gott tötete diesen Menschen“, für unsere Kultur schwer verdaulich. Aber so wird die Pointe deutlicher: Nur Gott hat Macht über Leben und Tod und nur ER hat auch die Entscheidungsmacht, wo/wie wir die Ewigkeit zubringen. Wenn ich also IHN fürchte, verblasst die Furcht vor Menschen und Mächten, die nur begrenzte Macht haben, so beängstigend diese im Moment auch erscheint.

Und diese Furcht Gottes ist nicht etwa lähmend oder so, dass ich Gott entweichen, mich vor ihm verstecken will, wie Adam und Eva im Paradies. Nein, diese Furcht zieht mich sozusagen in SEINEN liebevollen Bann. Diese Liebe drücken die vier gerade zitierten Verse aus dem Lukasevangelium deutlich aus: Jesus spricht die Zuhörer als „meine Freunde“ (philos wörtlich „Lieber“ „Geliebter“) an und endet mit einer dreistufigen Steigerung:

  • Selbst ein einzelner Spatz ist vor in den Augen Gottes nicht vergessen.
  • Selbst Eure Haare sind von Gott gezählt.
  • Ihr seid vorzüglicher als Spatzen.
    (Oder wörtlicher: Gott „macht einen Unterschied“. Er hebt uns Menschen heraus: Die Tiere werden – Plural – nach ihrer Art geschaffen. Der Mensch individuell, männlich und weiblich und nach dem Bilde Gottes; ER haucht ganz persönlich SEIN(EN) Leben(shauch) in den Menschen ein.)

Durch viele weitere Stellen belegt, entsteht ein großer biblischer Dreiklang, der hier unmittelbar im Text auftaucht:

  • Fürchtet Euch nicht vor Menschen oder bösen Mächten. Deren Macht ist begrenzt.
  • Ich, Jesus, will Euch stattdessen zeigen, wie Ihr Gott fürchten lernt und darin SEINE/MEINE Liebe erfahrt. Denn alle Macht liegt in SEINEN/MEINEN Händen und ich habe gerade darin Eure Welt besiegt, indem ich sie radikal mit euch teil(t)e, Eure Angst zu meiner Angst mach(t)e.
  • Deshalb sage ICH, der intime Angstkenner, „Fürchtet Euch nicht“ oder klarer: „Ihr müsst Euch nicht mehr fürchten, ihr müsst keine Angst mehr haben, wenn MEIN Gewicht in Euren Leben gewichtiger wird als das von Menschen und Mächten.“

So gilt, was der Engel am ersten Weihnachten den Hirten sagt, für sie ebenso wie für uns (hier nach der Übersetzung Das Buch):
„Habt keine Angst! Denn ich bin hier, um euch eine wunderbare Nachricht zu bringen! Große Freude bedeutet sie für alle Menschen. Heute ist für euch der Weltenretter geboren, der Messias, der rechtmäßige Herr, und zwar in dem Heimatort von David.“

Wolfram Soldan (Dezember 2023)

 

Gerne können Sie hier auch Wolfram Soldans ganzen Text mit weiteren Erläuterungen zu Furcht, Gottesfurcht, den biblischen Begriffen oder den Auswirkungen von Gewichtungen und Wichtigkeiten in meinem Leben lesen.

Ein heilsames Paradox der Angst

Vorbemerkung: Im Deutschen wird oft unterschieden zwischen Angst und Furcht, wobei Furcht konkreter und Angst umfassender oder diffuser erscheint. Auch im biblischen Vokabular scheint es eine solche Unterscheidung zu geben: In den älteren genaueren Übersetzungen wird hebr. jare und griechisch phobos mit Furcht wiedergegeben und andere Vokabeln, die tatsächlich etwas mit (körperlich spürbarem) Druck und Enge zu tun haben, wie das deutsche Wort Angst (von eng) dann meist mit Angst. Allerdings scheint hier eher Furcht das breitere und abstraktere Wort zu sein, während im Urtext körperempfindungsnahe Vokabeln, die Enge und Bedrückung ausdrücken, eben eher mit Angst wiedergegeben werden. Im Alltagsdeutsch wird aber Angst und Furcht weitgehend synonym gebraucht und Angst scheint geläufiger. Folgerichtig geben moderne Übersetzungen „Furcht“ und „fürchten“ (Wortstämme jare und phobos) häufig mit „Angst (haben)“ wieder. Das „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, …“ aus der Weihnachtsgeschichte nach Luther (Lk2,10) wird dann zu „Habt keine Angst …“ (so Das Buch, Gute Nachricht, Neues Leben). Für diesen Text Unterscheide ich deshalb bewusst nicht zwischen Angst und Furcht.

Spannend ist, dass die biblischen Grundvokabeln „jare“ und „phobos“ sowie weitere Begriffe, die körpernäher Beengung, Schrecken, Zittern bezeichnen, jeweils zwei deutlich unterscheidbare Qualitäten ausdrücken können bei gleichen Vokabeln:

1.) Angst, die mich lähmt, mich fliehen oder mich verstecken lässt, wie gleich am Anfang beim Sündenfall, wo Adam und Eva sich aus Angst (vor Gott) verstecken, weil sie sich plötzlich nackt fühlen.

2.) Die sogenannte Gottesfurcht, die mich zwar vor Gott erschrecken lässt, aber gleichzeitig zu IHM hinzieht.

Nun finden wir in der Bibel oft (jedenfalls mehr als hundert Mal) die Aufforderung, sich nicht zu fürchten („Fürchtet Euch nicht!“ oder noch häufiger „Fürchte Dich nicht!“) meist als direkte Botschaft von Gott (oder Engeln). Ich habe öfter gehört, dass dies 365mal vorkomme, für jeden Tag des Jahres einmal, ein schöner Gedanke, den ich aber mit meinen Textwerkzeugen nicht bestätigen konnte.

Dieses im Alltagsdeutsch „Hab(t) keine Angst!“ kann uns trösten und stärken oder aber auch unter Druck bringen: „Was jetzt darf ich noch nicht einmal Angst haben? Wie soll ich das denn anstellen?“ So kann es zum Glück nicht gemeint sein. Denn der sündlose Gottessohn durchlitt selber Angst, im Garten Gethsemane, in drastischen körpernahen Ausdrücken formuliert (zittern, beengt fühlen, Blut schwitzen). Statt uns also Angst zu „verbieten“ wird Jesus sie mit uns durchleiden: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh16,33b Luther 2017). Wie hat er die Welt überwunden oder besiegt? Mitten durch! Indem er alles durchmacht, was Menschen durchlitten haben, durchleiden und durchleiden werden, indem er aus ganzem Herzen seine Göttlichkeit verlässt und Mensch wird in der Passion auch noch jede übernatürliche Hilfe loslässt. Das fiel ihm nicht leicht: Er musste sich in Gethsemane buchstäblich erst dazu durchringen und so die auch ihn ergreifende Welt überwinden: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ in Lk22,42 verdichtet auf einmal. Bei Matthäus (26,36ff) und Markus (14,32ff) wird dies geschildert als dreimaliges Beten mit diesem Inhalt, also als Prozess über einige Zeit.

Mindestens ebenso häufig wie das „Fürchte Dich nicht!“ klingt in der Bibel das „“Gott fürchten“ an, häufig als direkte Aufforderung, aber auch als Lob auf die Gottesfurcht, die gute Früchte mit sich bringt – nicht zuletzt Weisheit und Erkenntnis. Außerdem gibt es noch etliche Male die Klage über fehlende Gottesfurcht und die grausamen Folgen dieses Fehlens.

Das klingt paradox: Fürchtet euch nicht und fürchtet euch doch!

Vor etwas über 100 Jahren schrieb der Marburger Theologieprofessor Rudolf Otto über „Das Heilige als Geheimnis“ und unterschied dabei das Mysterium faszinosum, das glückselige freudige Geheimniserleben vom Mysterium tremendum, dem erschreckenden Geheimniserleben. Letzteres passt gut zur Gottesfrucht, die in der Bibel erstaunlich oft in einem Atemzug mit der Freude an Gott genannt wird.

Bevor ich mich da weitervertiefe, möchte ich einen Moment innehalten und die Ängste beleuchten, die uns heute umtreiben: Schon die Covid-Pandemie hat uns aus gewohnten Sicherheiten herauskatapultiert und uns Ängste vor Tod und schwerem Verlauf einerseits und Impffolgen andererseits beschert; außerdem Angst, allein gelassen zu werden, Existenzängste, Angst von Politik und Wissenschaft im Stich gelassen zu werden usw. Ein unerwarteter Krieg vor unserer Haustür mit Inflationssorgen und Kriegsflüchtlingen folgte. Und jetzt ein völlig skrupelloser Terrorismus gerade auch gegen wehrlose Frauen und Kinder mit massenhafter Geiselnahme und der Folge des Gazakrieges und offen explodierendem Antisemitismus an verschiedensten Orten und in verschiedenen politischen und weltanschaulichen Lagern. Wenn ich mich gar in verschiedene Betroffene dieser Katastrophen hineinversetze, weiß ich nicht, ob und wie ich das in ihrer Lage bewältigen könnte: Wenn ich eine Geisel wäre …, wenn der Krieg auch Deutschland erreichen würde …, wenn ich Palästinenser wäre eingequetscht zwischen menschenverachtenden eigenen Machthabern, von denen ich aber abhängig bin, denen ich vielleicht sogar glaube und einer angreifenden Armee, wenn ich …

Schon ohne solche „Wenns“ leiden viele von uns unter ganz konkreten existenziellen Sorgen und Ängsten mehr als bisher z. B. Long Covid oder Finanzsorgen oder durch Kriegsnachrichten getriggertes traumatisches (retraumatisierendes) Erleben.

Ein einfaches „Fürchtet euch nicht“ könnte regelrecht zynisch wirken.

Deshalb wenden wir uns erneut der Gottesfurcht zu: Ein engverwandtes Wort ist Ehrfurcht. Es ist auch das Wort das moderne Übersetzungen meist an die Stelle von Furcht setzen, wenn es um (Ehr)Furcht Gottes geht. Gott „ehren“ oder die „Ehre geben“ liegt nahe an der Bedeutung „Gott fürchten“ in der Bibel und ist uns auf Anhieb leichter zugänglich. Das hebräische Wort für ehren / Ehre (kabhad / kabhod) oder auch verherrlichen / Herrlichkeit bedeutet wörtlich schwermachen also „Gewicht verleihen“ oder umgangssprachlicher „wichtig nehmen“. Vielleicht wird es so leichter verständlich: Je höher das emotionale Gewicht Gottes für mein Leben ist, je (ge)wichtiger ER für mich ist, desto leicht(gewichtig)er wird Anderes. Und jetzt schärfer: Wenn das Erschrecken, die Furcht das Erschauern vor Gottes Heiligkeit, Größe, Reinheit, Leidenschaft und Macht mich ergreift (Mysterium tremendum), kann mich dann irgendeine menschliche Angst noch so intensiv packen oder beeindrucken?

In typisch jüdisch rabbinischer Zuspitzung sagt Jesus hierzu: „Ich sage aber euch, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können. Ich will euch aber zeigen, wen ihr fürchten sollt: Fürchtet den, der, nachdem er getötet hat, Macht hat, in die Hölle zu werfen. Ja, ich sage euch, den sollt ihr fürchten. Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Groschen? Dennoch ist vor Gott nicht einer von ihnen vergessen. Auch sind die Haare auf eurem Haupt alle gezählt. Fürchtet euch nicht! Ihr seid kostbarer als viele Sperlinge.“ (Lk12,4-7 Luther 2017)

Im Gegensatz zu uns heute, war für die Zuhörer völlig klar, dass „der, der nachdem er getötet hat, in die Hölle werfen kann.“ nur Gott selbst sein kann. Für den ganzheitlich denkenden Hebräer kann, weil Gott der Herr über Leben und Tod ist, der Tod eines Menschen auch gesehen werden als „Gott tötete diesen Menschen“, für unsere Kultur schwerverdaulich. Aber so wird die Pointe deutlicher: Nur Gott hat Macht über Leben und Tod und nur ER auch die Entscheidungsmacht wo/wie wir die Ewigkeit zubringen. Wenn ich also IHN fürchte, verblasst die Furcht vor Menschen und Mächten, die nur begrenzte Macht haben, so beängstigend diese im Moment auch erscheint.

Und diese Furcht Gottes ist eben nicht lähmend oder so, dass ich Gott entweichen, mich vor ihm verstecken will, wie Adam und Eva. Nein diese Furcht zieht mich sozusagen in SEINEN liebevollen Bann. Diese Liebe drücken die 4 zitierten Verse deutlich aus: Jesus spricht die Zuhörer als „meine Freunde“ (philos wörtlich „Lieber“ „Geliebter“) an und endet mit einer dreistufigen Steigerung:
Erste Stufe: Selbst ein einzelner Spatz ist vor in den Augen Gottes nicht vergessen.
Zweite Stufe: Selbst Eure Haare sind von Gott gezählt.
Dritte Stufe: Ihr seid vorzüglicher als Spatzen oder wörtlicher: Gott „macht einen Unterschied“ mit Euch. Er hebt uns Menschen heraus: Die Tiere werden – Plural – nach ihrer Art geschaffen. Der Mensch individuell, männlich und weiblich und nach dem Bilde Gottes; ER haucht ganz persönlich SEIN(EN) Leben(shauch) in den Menschen ein.

So entsteht durch viele Stellen hindurch ein großer biblischer Dreiklang, der hier unmittelbar im Text auftaucht:

  • Fürchtet Euch nicht vor Menschen oder bösen Mächten. Deren Macht ist begrenzt.
  • Ich will Euch stattdessen zeigen, wie Ihr Gott fürchten lernt und darin SEINE/MEINE Liebe erfahrt. Denn alle Macht liegt in SEINEN/MEINEN Händen und ich habe gerade darin Eure Welt besiegt, indem ich sie radikal mit euch teil(t)e, Eure Angst zu meiner Angst mach(t)e.
  • Deshalb sage ICH der intime Angstkenner „Fürchtet Euch nicht“ oder klarer: „Ihr müsst Euch nicht mehr fürchten, ihr müsst keine Angst mehr haben, wenn MEIN Gewicht in Euren Leben gewichtiger wird als das von Menschen und Mächten.“

So gilt für die Weihnachtszeit und auch weiter danach, was der Engel den Hirten sagt (nach Übersetzung Das Buch):

„Habt keine Angst! Denn ich bin hier, um euch eine wunderbare Nachricht zu bringen! Große Freude bedeutet sie für alle Menschen. Heute ist für euch der Weltenretter geboren, der Messias, der rechtmäßige Herr, und zwar in dem Heimatort von David.“