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Gegensätze sind keine Widersprüche!

Gegensätze sind keine Widersprüche – wirklich? Mich hat dieser Gedanke vor Jahren gleich angesprochen, als ich das Buch „Der Gegensatz“ von Romano Guardini gelesen habe. Er hatte es in den 1920er Jahren geschrieben, als noch relativ junger Philosoph und Theologe, der sich über zentrale Aspekte des Lebens Gedanken machte.

Was kennzeichnet das Lebendige, das je einzelne Lebewesen? Es sind Gegensätze, schrieb er, die aber keineswegs Widersprüche sind, sondern Gegensatzpaare, zwischen denen sich der Raum lebendigen Seins aufspannt. Also nicht etwas wie Gut und Böse, etwas, was sich ausschließt, sondern Spannungen, die zwar gefühlt gegeneinander stehen können, die aber notwendig sind, damit wir leben können, damit wir lebendig und nicht starr, steif und damit tot sind.

Ein bewohnbares festes Gebäude und eine Dauerbaustelle

Einen ersten Gegensatz bezeichnete er mit den Begriffen Akt und Bau, als dynamische Veränderung und statisch Bestehendes. Jedes Wesen ist beständig in Aktion und Bewegung, rein körperlich durch den Stoffwechsel, die Zellteilungen…, mental durch immer neue Informationen, die wir aufnehmen, die Gedanken und Gefühle auslösen…, als Persönlichkeit, die durch Erfahrungen wächst und geformt wird. Und gleichzeitig ist jederzeit etwas Stabiles da, etwas, was schon aufgebaut ist, ein Körper, der sichtbar, spürbar vorhanden ist, mit dem wir leben und in dieser Welt stehen, intellektuelle Fähigkeiten und ein Wissen, aus dem heraus wir den aktuellen Augenblick bewältigen, mit dem wir in neue Situationen gehen, eine Persönlichkeit, mit der wir in Beziehungen treten und von anderen erkannt werden…

Es macht Freude, zu bauen und festzustehen

Ich kann dieses Gegensatzpaar nachvollziehen – und froh sein, dass es beide Pole gibt. Ja, in jedem Augenblick geschieht etwas, ich bleibe nie genau die gleiche Person, innerlich und äußerlich, ich handle, kann mich auf ganz verschiedene Art verhalten, mich neuen Situationen, Aufgaben oder Begegnungen stellen. Und gleichzeitig das Bleibende, Bekannte, so bin ich, ich bin da. In der Regel wache ich morgens auf und sehe ins vertraute Gesicht im Spiegel, auch mein Mann erkennt mich wieder, wir trinken zusammen Tee, beten, wissen, dass wir gerne die Nachrichten nicht verpassen und genügend Zeit fürs gemeinsame Frühstück haben…

Es macht Mühe, zu bauen und festzustehen

Doch dann gibt es Zeiten, da wird eine Spannung zwischen Dynamik und Statik spürbar. Einerseits Zeiten im Leben, wo so viel in Bewegung ist, dass ich mich frage: „Wer bin ich eigentlich? Und wie soll ich das aushalten?“ Zum ersten Mal Eltern werden, eine neue Arbeitsstelle, die Kinder werden erwachsen… Manchmal genügt sogar der Urlaub in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht verstehe und in dem meine gewohnten Lebensabläufe überhaupt nicht passen – da wünsche ich mir Ruhe und dass alles wieder so ist, „wie es immer war“. Und umgekehrt Zeiten, in denen der Alltagstrott grau und langweilig ist, mich jeden Morgen die gleiche Routine erwartet oder etwas mich plagt, was ich an mir verändern möchte, doch Neues will einfach nicht gelingen – da möchte ich ausbrechen und frage mich: „Warum bin ich so starr, kann nicht anders sein, einmal ein anderes Leben führen als bisher?“

Bauen und Feststehen zu seiner Zeit

Nach Guardini geht es nun nicht darum, „die goldene Mitte“ zu finden, Veränderung und Bestehendes gleichmäßig zu verteilen, auch nicht darum, eine Seite besonders als „die bessere Seite“ einzuüben, sondern wir müssen die Spannung in passender Weise leben. Das heißt, in der Veränderung wissen, wie wir auf Bestehendes zurückgreifen, darauf aufbauen können, und gleichzeitig halten wir bei aller Dankbarkeit für das Bestehende nicht so daran fest, dass alles immer bleiben muss, wie es einmal gut war, sondern wissen, dass das Gebaute nur echten Bestand haben kann, wenn es Veränderung zulässt.

Die produktive Spannung zulassen

Leben ist Veränderung. Leben ist Bestehendes. Manchmal steht ein Pol mehr im Vordergrund, manchmal der andere, manchmal müssen wir für den einen mehr sorgen, manchmal für den anderen, aber immer hat jeder sein ganz eigenes Recht und Dasein.

Ihre produktive Spannung können Gegensatzpaare verlieren, wenn wir eine künstliche Ordnung schaffen wollen, wenn wir etwa versuchen, sie vorsorglich zu je gleichen Teilen zu berücksichtigen, und an dieser Ordnung festhalten, auch wenn sie gerade gar nicht in die aktuelle Lebenssituation passt.

Zum Widerspruch werden Gegensatzpaare, wenn wir einseitig auf einem Pol beharren oder einen überbetonen. Im ersten Moment kann das hilfreich erscheinen (weil wir vielleicht gerade einen Mangel auf dieser Seite haben), aber langfristig engen wir unser Leben ein, nehmen uns den Raum, den wir zur Entfaltung brauchen: tragfähig und elastisch, gehalten von stabil Gebautem und dynamischem Austausch.

Gegensätze lieben lernen

Schon die Beschäftigung mit diesem ersten Gegensatzpaar hat mich motiviert, grundsätzlich die Vorstellung von Gegensatzpaaren zu schätzen. Gegensätze schaffen die Spannung, mit Schwung durchs Leben zu gehen. Ich habe da das Bild eines Trampolins vor Augen, auf dem ich gut springen kann, wenn es an allen gegenüberliegenden Haltepunkten verankert ist. Je nachdem, wo ich springe, bin ich mal dem einen, mal dem anderen Haltepunkt näher. Doch keiner steht im Widerspruch zum anderen, jeder hat seine spezielle Aufgabe.

Und bei allem Springen bin ich dankbar, dass ein Gott mich hält, der es schafft, mir in der Spannung von unendlicher Liebe, Gnade und Erbarmen einerseits und Wahrheit und Gerechtigkeit andererseits zu begegnen.

Agnes May (Oktober 2022)

Mehr zum Thema Polaritäten/Polaritätenmodelle:

Guardini, Romano (1925/1998). Der Gegensatz (4. Aufl.). Mainz, Paderborn: Grünewald/Schöningh.

Werkstattblatt 14: Ulrike Lang/Werner May „Auf beiden Seiten vom Pferd fallen. Vom lebendigen Rhythmus: Das Polaritätenmodell.“ >>> im Shop

Vortragsaufzeichnung: „Monika Heß „Das Leben ist sowohl als auch. Mit dem Polaritätenmodell eine gesunde Balance finden.“ >>> im Shop als DVD  |  >>> im Shop als Download

 

Bildnachweis: Kai Pilger und Viva la vida!!! Rosa Matilde Peppi auf Pixabay